Arbeitgeber muss Arbeitsmittel stellen oder Kompensation zahlen
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 10.11.2021
Die Digitalisierung befördert neue Formen der Arbeit, die ansatzweise mit „abhängiger Selbstständigkeit“ umschrieben werden können. Die sogenannten Crowdworker arbeiten auf einer Plattform mehr oder minder unabhängig voneinander „Mikrojobs“ des Auftraggebers ab. On-demand-Unternehmen wie Reinigungsservices oder Lebensmittellieferdienste vergeben Aufträge an Menschen, die sich bei dem Dienst haben registrieren lassen. Urlaub, Schutz im Krankheitsfall und Kündigungsschutz steht ihnen dabei oft nach den geschlossenen Verträgen nicht zu, der Auftraggeber führt keine Sozialabgaben ab. All das führt zu Herausforderungen in der arbeitsrechtlichen Bewertung, denen sich die Rechtsprechung nach und nach stellt.
Zunächst ein kurzer Überblick über die (rechtlichen) Rahmenbedingungen der „neuen Arbeit“:
Was ist freie Mitarbeit und was ist abhängige Beschäftigung?
Die Frage, ob ein Beschäftigter als Arbeitnehmer oder als freier Mitarbeiter einzuordnen ist, ist von enormer Wichtigkeit für die rechtlichen Folgen. Arbeitnehmer ist, wer aufgrund vertraglicher Bindung unselbständig und fremdbestimmt Dienstleistungen erbringt. Maßgebliche Kriterien hierfür sind die Anzahl der Auftraggeber, ob der Mitarbeitende zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort zu erscheinen und dort Dinge zu erledigen, die ihm aufgetragen werden oder gar in einem Team zu arbeiten hat, ob der Mitarbeitende für das Unternehmen nach außen auftritt und ob das „Honorar“ in Vorhinein feststeht. Trifft all dies zusammen, ist der vermeintliche freie Mitarbeitende in Wirklichkeit Arbeitnehmer; gleich, wie die Bezeichnung im Vertrag lautet. Das kann fatale Folgen für das Unternehmen haben, denn in diesem Fall sind für den gesamten zurückliegenden Zeitraum bis zur Verjährungsgrenze die Sozialversicherungsabgaben plus Säumniszuschläge in einer Summe zu zahlen. Ferner kann der Arbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis auch für die Zukunft geltend machen.
In der Regel liegt der Fall hingegen nicht so klar, so dass die Sozialversicherungsträger und ggf. die Gerichte umfassende Prüfungen anstellen. Sind nicht sämtliche Voraussetzungen einer freien Mitarbeit deutlich erfüllt, geht die Tendenz in dieser Prüfung zumeist Richtung Arbeitsverhältnis.
Crowdworking
Crowdwoker schließen in der Regel einen Rahmenvertrag mit der Plattform ab, die von dem „crowdsourcer“ betrieben wird. Dieser beinhaltet für gewöhnlich insbesondere AGB, nach denen der Crowdworker zur Wahrung steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Vorgaben in Eigenregie verpflichtet wird. Für jeden Einzelauftrag wird regelmäßig ein weiterer Vertrag geschlossen, so dass einem Arbeitsauftrag stets zwei Verträge zugrunde liegen. Die Art der zu leistenden Tätigkeit kann ganz unterschiedlich sein; manche Aufträge setzen spezielle Kenntnisse voraus, andere Aufträge wie beispielsweise das Testen eines kleinen Internetspiels können von nahezu jedermann erbracht werden. Der Crowdworker ist nicht verpflichtet, bestimmte oder überhaupt Arbeitsaufträge anzunehmen, sondern kann frei aus dem Angebot auf der Plattform wählen.
Diese Gestaltung entspricht einer freien Mitarbeit (sog. Freelancer): Freie Wahl der Auftragsannahme und sogar die Möglichkeit, begonnene Aufträge ohne Begründung abzubrechen, keine Pflicht zur persönlichen Erbringung der Dienstleistung, keine Eingliederung in betriebliche Strukturen und beiderseitige sofortige Kündigungsmöglichkeit. Sind die Crowdworker in diesem Sinne echte freie Mitarbeiter, ist das gewählte Vertragskonstrukt, also insbesondere die auf den Mitarbeiter verlagerte Abführung sämtlicher Steuer- und Sozialabgaben, rechtlich zulässig.
Treten jedoch bestimmte Umstände hinzu – und mögen sie auch auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen – kann ein Crowdworking-Verhältnis gleichwohl ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis begründen. So geschah es in einem Fall, den das Bundesarbeitsgerichts Ende des Jahres 2020 entschied (Urteil des BAG vom 01.12.2020, Az. 9 AZR 102/20). Dort ermöglichte ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im Bewertungssystem es dem Crowdworker, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Durch dieses Anreizsystem wurde nach Ansicht des Gerichts der Crowdworker dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Aufträge anzunehmen und zu erledigen. Durch diese Kontinuität sei ein Arbeitsverhältnis begründet worden. Der Arbeitgeber musste demnach künftig und auch für die Vergangenheit Sozialversicherungsbeiträge entrichten, den Mindestlohn einhalten etc.
Mitarbeitende in On-Demand-Unternehmen
On-Demand-Unternehmen betreiben ebenfalls eine Internetplattform, über welche Aufträge vergeben werden. Die Leistungen können wie im Fall des crowdworking ganz unterschiedlich ausfallen, haben aber stets Dienstleistungscharakter. Der klassische Fall ist der Essenslieferdienst, wobei der Kunde eine Mahlzeit über das Internetportal des On-Demand-Unternehmens bestellt und dort auch bezahlt, woraufhin der Mitarbeitende die Mahlzeit in einem Restaurant abholt und dem Kunden – häufig per Fahrrad – nach Hause liefert (sog. „Rider“). In ähnlicher Weise können auch andere Kurier- oder Dienstleistungen vermittelt werden.
Im Fall der On-Demand-Unternehmen gibt es zwei vertragliche Varianten: Manche Unternehmen stellen direkt Arbeitnehmer ein. So fallen Fahrradkuriere, die Essen abholen und ausliefern, in der Regel recht deutlich unter den Arbeitnehmerbegriff, da sie – häufig sogar in gekennzeichneter Betriebskleidung – nach detaillierten Vorgaben Aufträge abarbeiten. In anderen Fällen schließen die Mitarbeitenden ähnlich wie im Fall des crowdworking mit dem Unternehmen einen Rahmenvertrag ab, dessen AGB vorsehen, dass das Unternehmen Aufträge lediglich vermittelt, die Auftragnehmer jedoch nicht bei dem Unternehmen beschäftigt sind. Auch hier soll also freie Mitarbeit vorliegen und auch hier ist dies nach den Rahmenbedingungen möglich – aber ebenso ist es möglich, dass ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, wenn auch nur Nuancen in der vertraglichen Gestaltung oder in der „gelebten“ Vertragsbeziehung verändert werden.
Muss der Arbeitgeber Arbeitsmittel stellen?
In allen vertraglichen Konstellationen werden Arbeitnehmer bzw. Auftragnehmer in der Regel verpflichtet, benötigte Gegenstände wie z.B. das Fahrrad, ein internetfähiges Mobiltelefon oder Rechner selbst einzubringen. Im Fall echter freier Mitarbeit ist dies folgerichtig. Bei Arbeitnehmern sieht dies jedoch grundsätzlich anders aus. Ohne vertragliche Regelung ist es eine Folge aus dem Beschäftigungsverhältnis, dass der Arbeitgeber die zur Arbeit erforderlichen Arbeitsmittel zu stellen hat, z.B. einen Schreibtisch mit Computer und Telefon, in handwerklichen Berufen das erforderliche Werkzeug etc..
Mit der Frage, ob dies vertraglich ausgeschlossen werden kann, hatten sich aktuell die Gerichte zu befassen.
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Ausschluss der Stellung von Arbeitsmitteln nur bei Kompensation
Geklagt hatte ein Angestellter eines Speisenlieferdienstes, ein so genannter Rider. Einsatzpläne und Adressen der Restaurants, von denen er eine Lieferung ausfahren soll ebenso wie die Kundenadressen wurden ihm per App auf sein Smartphone mitgeteilt. Die App verbraucht üblicherweise bis zu 2 GB Datenvolumen pro Monat. Der spätere Kläger nutzte für seine Tätigkeit sein eigenes Fahrrad und sein eigenes Mobiltelefon. Er klagte darauf, dass ihm diese Arbeitsmittel zu stellen seien.
Das Landesarbeitsgericht Hessen gab der Klage statt und verurteilte den Arbeitgeber, ihm ein Mobiltelefon mit einem Datennutzungsvertrag von 2 GB monatlich sowie ein verkehrstüchtiges Fahrrad zur Ausübung seiner Tätigkeit als Fahrradlieferant zur Verfügung zu stellen. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die für die Erbringung der Arbeitsleistung notwendigen Betriebsmittel der Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen hat. Gem. § 611a BGB schuldet der Arbeitnehmer ausschließlich die vereinbarte Arbeitsleistung, nicht aber die Stellung der hierfür erforderlichen Arbeitsmittel. Eine hiervon abweichende vertragliche Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien, dass der Arbeitnehmer die Betriebsmittel einzubringen hat, sei zwar grundsätzlich zulässig, hier aber nicht zulässig erfolgt. Die arbeitsvertragliche Regelung, wonach dem Kläger nur bestimmte Betriebsmittel gestellt wurden (wozu das Mobiltelefon und das Fahrrad nicht gehörten), sei unwirksam, da sie den Arbeitnehmer unangemessen benachteilige. Diese Regelung bürde dem Arbeitnehmer Pflichten und Risiken auf, die nach der gesetzlichen Regelung den Arbeitgeber treffen, ohne hier für eine Kompensation vorzusehen. Die Nutzung eines eigenen Fahrrades und eines eigenen Mobiltelefons gehören nicht zur selbstverständlichen Einsatzpflicht des Arbeitnehmers, wie beispielsweise dessen Privatkleidung. Dagegen könne nicht eingewendet werden, der Arbeitnehmer besitze „sowieso“ ein Mobiltelefon und/oder ein Fahrrad. Selbst wenn man dies annähme, stelle es eine unangemessene Benachteiligung der Arbeitnehmer dar, diese Vermögensgegenstände ohne Gegenleistung oder die Regelung eines Aufwendungsersatzes im Interesse des Arbeitgebers einsetzen zu müssen und entgegen § 615 S. 3 BGB das Risiko zu tragen, die Arbeitsleistung nicht erbringen zu können, etwa wenn das Fahrrad gestohlen oder beschädigt wird.
Das Bundesarbeitsgericht hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts bestätigt (Urteil des BAG v. 10.11.2021, Az. 5 AZR 335/21) und urteilte ebenfalls, dass die Klausel, wonach nur ausgewählte Betriebsmittel zu stellen seien, unwirksam sei. Der Anspruch der „Rider“ auf Stellung eines Mobiltelefons und Fahrrads ist daher in einem grundsätzlichen Sinne höchstgerichtlich festgestellt – es sei denn, der Arbeitgeber sieht eine echte Kompensation für das Einbringen dieser Gegenstände vor. Das ist aktuell in der Regel nicht so. Die betroffenen Unternehmen werden also gezwungen sein, ihre (Arbeits-)Verträge anzupassen.
Haben Sie Fragen zu dem Thema Arbeitnehmerstatus und Arbeitsmittel? Wir helfen Ihnen gerne weiter.
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