Grenzen tariflicher Regelungsmacht – „Aber“ bei der Tarifbindung gilt nicht
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13.05.2020
Wer ist denn heute noch gewerkschaftlich organisiert? Möglicherweise sind in einer flexibler werdenden Arbeitswelt wie der unsrigen kostenpflichtige Mitgliedschaften bei zumeist alteingesessenen und fast schon traditionell daherkommenden Arbeitnehmervertretungen nicht mehr so attraktiv. Vielleicht hoffen die Nichtgewerkschaftler auch einfach darauf, dass die Mitglieder es schon richten werden. Jedenfalls sinkt der so genannte Organisationsgrad in Deutschland ab. Vollständig verschwunden ist der Gewerkschaftsgeist allerdings nicht. Weniger als in den 90er Jahren (40 %), aber immerhin noch um die 20 % der Arbeitnehmer sind noch gewerkschaftlich organisiert. Ihr Einfluss ist jedenfalls nach wie vor immens: Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf Ihr Arbeitsverhältnis ein Tarifvertrag angewendet wird, größer als dass das nicht der Fall ist. Jeder der derzeit rund 73.000 Tarifverträge ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen einem Arbeitgeber(-verband) und einer Gewerkschaft.
Was bewirken Tarifverträge?
Die gesetzliche Aufgabe – und zugleich das Interesse – der Gewerkschaften ist es, sich für bessere Arbeitsbedingungen, vor allem höhere Löhne, einzusetzen. Diese Ziele werden erreicht, wenn für die Arbeitnehmerseite vorteilhafte Tarifverträge geschlossen werden. Gewerkschaften können auf diesem Weg bessere Ergebnisse als einzelne Arbeitnehmer erzielen, weil sie zahlmäßig stärker und damit mächtiger sind. Sowohl durch die mediale Aufmerksamkeit als auch durch das Recht, Arbeitskämpfe zu führen und nicht zuletzt durch die professionelle Interessenvertretung werden die Gewerkschaften von den Arbeitgebern ernst genommen und können auf Augenhöhe verhandeln. Genügt das Verhandlungsergebnis aus Sicht der Gewerkschaft nicht den Erwartungen, kann sie zu Streiks aufrufen und diesen Streit durch Streikgeld auch finanzieren.
Man kann also regelmäßig sagen: Den Arbeitnehmern kommt das Tarifergebnis zugute. Allen Arbeitnehmern? Jein. Für Arbeitnehmer, die selbst Gewerkschaftsmitglied sind, gilt der Tarifvertrag grundsätzlich, als hätten sie ihn selbst abgeschlossen. Das ist die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen, im Gesetz wird es so formuliert:
„Die Rechtsnormen des Tarifvertrags (…) gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen.“ (§ 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG))
Arbeitgeber können auch ihren übrigen Mitarbeitern die Geltung des Tarifvertrags anbieten. Das geschieht oft und wird in der Regel auch gerne angenommen. Der Grund hierfür ist, dass Arbeitgeber hoffen, auf diese Weise den Organisierungsgrad im Betrieb niedrig zu halten und / oder Störungen der Betriebsatmosphäre wegen Ungleichbehandlungen vermeiden wollen. Die Einbeziehung des Tarifvertrags in die Arbeitsverhältnisse geschieht durch eine so genannte Inbezugnahmeklausel oder Gleichstellungsklausel im Arbeitsvertrag.
Kurzer Exkurs: Das Günstigkeitsprinzip
Das Günstigkeitsprinzip ist ein Schutzrecht für Arbeitnehmer und besonders für das Verhältnis Arbeitsvertrag – Tarifvertrag relevant. Die Rangfolge des Arbeitsrechts lautet vereinfacht wie folgt:
- Europäisches Recht
- Verfassungsrecht
- Arbeitsgesetze / Tarifverträge
- Betriebs- und Dienstvereinbarungen
- Arbeitsvertrag
Es gilt der Grundsatz, dass die ranghöhere Regelung der rangniedrigeren vorgeht, falls sich Regelungen widersprechen. Gibt es einen Tarifvertrag, darf der Arbeitgeber also im (rangniedrigeren) Arbeitsvertrag keine für den Arbeitnehmer schlechteren Regelungen treffen. Eine Ausnahme hiervon ist nur möglich, wenn der Tarifvertrag dies ausdrücklich so vorsieht.
Das Günstigkeitsprinzip geht darüber noch darüber hinaus, indem eine rangniedrigere Rechtsquelle gegenüber einer ihr widersprechenden höherrangigen dann anzuwenden ist, wenn sie für den Arbeitnehmer objektiv günstiger ist. Das ist z.B. der Fall, wenn der (rangniedrigere) Arbeitsvertrag mehr Urlaubstage pro Jahr vorsieht als der (ranghöhere) Tarifvertrag oder das (ranghöhere) Bundesurlaubsgesetz. Bestanden beim Inkrafttreten eines Tarifvertrags bereits günstigere Bedingungen, gelten sie so lange fort, bis der Tarifvertrag günstiger wird, z.B. im Fall einer tariflichen Erhöhung des Lohns. Rosinenpickerei ist allerdings auch im Rahmen des Günstigkeitsprinzips nicht gestattet: Betrachtet wird der gesamte Regelungskomplex. Wenn also die Vergütung auf Günstigkeit geprüft wird, sind hier alle Regelungen der Vergütungsbestandteile einschließlich Sondervergütungen und Zulagen einzubeziehen.
Können die unmittelbare Wirkung und das Günstigkeitsprinzip ausgehebelt werden?
Wir stellen also fest, dass Arbeitnehmer, die selbst Gewerkschaftsmitglieder sind, grundsätzlich keine Einigung mit ihrem Arbeitgeber über die Einbeziehung des Tarifvertrags in das Arbeitsverhältnis treffen müssen. Außerdem können sie sich wie auch ihre nicht gewerkschaftlich organisierten Kollegen darauf berufen, dass die für sie jeweils günstigere Regelung gilt, ob diese nun im Arbeitsvertrag oder im Tarifvertrag geregelt ist. Wie könnte der Weg zum Tarifglück da noch steinig werden? Indem Arbeitgeber und Gewerkschaft gemeinsam regeln, dass ein Tarifvertrag eben nicht sofort gilt, sondern einen gesonderten Umsetzungsakt benötigt. Stimmt der Arbeitnehmer diesem Umsetzungsakt nicht zu, stellt sich die Frage, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung so etwas regeln und damit dem Arbeitnehmer den Weg zum Tarifvertrag versperren können. Diese Frage hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) aktuell beantwortet.
Was war passiert? Tarifgebundene Mitarbeiterin soll in neuen Tarifvertrag einsteigen
Geklagt hatte die Mitarbeiterin eines Werkstoffdienstleisters, bei welchem sie seit dem Jahr 1999 beschäftigt ist. Sie ist zugleich Mitglied der Gewerkschaft IG Metall. Zu Beginn des Arbeitsverhältnisses war das später beklagte Unternehmen noch nicht tarifgebunden. Im Jahr 2015 schloss der Arbeitgeber einen Firmentarifvertrag mit der IG Metall. In diesem Tarifvertrag war Folgendes geregelt: „Ansprüche aus diesem Tarifvertrag setzen [voraus] …, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird”. Um diesen „Nachvollzug“ zu erreichen, sollte mit den Arbeitnehmern jeweils eine Bezugnahmeklausel abschlossen werden, welche regeln sollte, dass sich das Arbeitsverhältnis nach dem jeweils für den Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers geltenden Tarifvertrag richtet. Die Klägerin nahm den Abschluss des ihr angebotenen neuen Arbeitsvertrags, der unter anderem diese Regelung enthielt, nicht an. Sie klagte stattdessen auf Zahlung der Differenz zu dem sich aus dem Tarifvertrag ergebenden (höheren) Gehalt seit dem Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrags.
Als Argument führte sie an, dass den Zahlungsansprüchen nicht entgegensteht, dass sie den ihr neu angebotenen Arbeitsvertrag nicht abschlossen hat. Nach Ihrer Ansicht hatte der Arbeitgeber die Einführung des Tarifvertrags selbst verhindert, weil nicht nur die Vereinbarung der Bezugnahmeklausel verlangte, sondern gleich den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags, der neben der Bezugnahmeklausel unbestritten weitere, für die Klägerin negative Regelungen enthielt.
Der Arbeitgeber hingegen war der Ansicht, der Klägerin stünden keine Zahlungsansprüche zu, weil sie das Angebot des Abschlusses des neuen Arbeitsvertrags nicht angenommen hatte. Die Tarifvertragsparteien seien sich bei Abschluss der neuen Tarifverträge einig gewesen, dass die Arbeitnehmer nicht die Möglichkeit erhalten sollten, neben neuen tariflichen Rechten auch sämtliche alten arbeitsvertraglichen Rechte zu beanspruchen.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts: Neuer Vertrag kann verlangt werden
Das Landesarbeitsgericht Hessen wies in der Berufungsinstanz die Klage zurück (Urteil des Hess. Landesarbeitsgerichts vom 17.01.2019, Az. 5 Sa 404/18). Zur Begründung führte es an, dass es für die Zahlungsansprüche keine Rechtsgrundlage gebe. Der Tarifvertrag fänden auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin keine Anwendung, weil die Tarifvertragsparteien – also die IG Metall und der Arbeitgeber – die Geltung davon abhängig gemacht hätten, dass die Arbeitnehmer zustimmen. Der Tarifvertrag sollte nach Ansicht des Gerichts nicht nach § 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) unmittelbar, also ohne dass eine Vereinbarung nötig wäre, wirken. Die Tarifvertragsparteien hätten eine solche Wirkung nach dem Wortlaut der getroffenen Regelungen nicht gewollt und daher auf sie verzichtet. Vielmehr hätten die Tarifvertragsparteien ausdrücklich vorgesehen, dass die Einbeziehung des Tarifvertrags von einer schon ausformulierten Bezugnahmeklausel abhängig sein sollte. Den Arbeitsvertragsparteien, also Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sei es daher freigestellt gewesen, ob der Tarifvertrag Anwendung finden soll. Die Klägerin habe die erforderliche Vereinbarung nicht abgeschlossen. An diesem Ergebnis änderte sich nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts auch nicht dadurch etwas, dass der Arbeitgeber mit dem neuen Vertragsangebot mehrere nachteilige Veränderungen des Arbeitsverhältnisses vorgesehen hatte. Die Tarifvertragsparteien hätten nicht geregelt, dass eine Verankerung der Bezugnahmeklausel in den bestehenden Arbeitsverträgen erfolgen müsse und auch nicht vorgesehen, dass nachteilige Veränderungen der Arbeitsbedingungen vermieden werden sollten.
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Kein Umsetzungsakt erforderlich
Das Bundesarbeitsgericht änderte das Urteil des Landesarbeitsgericht ab, gab der Klage statt und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung des Differenzgehaltes (BAG, Urt. v. 13.5.2020, Az. 4 AZR 489/19).
Hierzu führte das höchste deutsche Arbeitsgericht aus, dass eine Bestimmung, wonach tarifliche Ansprüche trotz beiderseitiger Tarifgebundenheit nur dann bestehen sollen, wenn die Arbeitsvertragsparteien durch eine Bezugnahmeklausel den Tarifvertrag noch einmal gesondert in das Arbeitsverhältnis einbeziehen („nachvollziehen“), nicht wirksam ist. Eine solche Bestimmung liegt außerhalb der tariflichen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien. Schon aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit stehen der Klägerin die Ansprüche aus dem Tarifvertrag zu, unabhängig von einer weiteren Regelung im Arbeitsvertrag. Dies ergibt sich einerseits aus der unmittelbaren Wirkung nach § 4 Abs. 1 TVG und andererseits aus dem Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 TVG.
Fazit: Änderung der tarifvertraglichen Praxis
Das Vorgehen der Tarifvertragsparteien in diesem Fall ist übliche Praxis, wird aber künftig nicht mehr möglich sein. Die Besonderheit zur „normalen“ unmittelbaren Tarifbindung besteht darin, dass ein einzelnes Unternehmen den Tarifvertrag abschließt und dann die Arbeitnehmer nachträglich mit einer gesonderten Regelung in den Tarifvertrag einbezieht. Da diese Regelung eine Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags darstellt, wenn auch meistens zu Gunsten des Arbeitnehmers, ist sie von dem Einverständnis des Arbeitnehmers abhängig. In dem aktuell entschiedenen Fall versuchte der Arbeitgeber, zeitgleich noch andere Regelungen im Arbeitsvertrag zu ändern. Hierzu wollte die Arbeitnehmerin nicht zustimmen. Das Bundesarbeitsgericht stellte nun fest, dass auch in einer solchen Konstellation die unmittelbare Tarifbindung wirkt, ohne dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch eine gesonderte Vereinbarung schließen müssen. Diese unmittelbare Wirkung können weder Arbeitgeber noch Gewerkschaft verhindern, da sie nicht die Regelungsmacht besitzen, die gesetzlichen Vorschriften des Tarifvertragsrechts zu beschränken.
Gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer haben nun Rechtssicherheit, dass die Tarifbindung nicht von einem gesonderten Vertragsschluss abhängig gemacht werden darf. Sie müssen einen solchen Vertrag nicht akzeptieren und sollten es in der Regel auch nicht, vor allem, wenn noch weitere Regelungen zur Änderung vorgesehen sind. Vermutlich wird aufgrund des klaren Urteils diese Praxis künftig auch nicht mehr angewandt werden. Sofern Arbeitnehmer allerdings in der Vergangenheit entsprechende Verträge akzeptiert haben, ändert das vorliegende Urteil an der Wirksamkeit dieser Vertragsschlüsse nichts.
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