Tarifverträge für alle?!
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.01.2020 (Az. 1 BvR 4/17 u.a.)
Tarifverträge sind in Deutschlands Arbeitswelt allgegenwärtig, es gibt über 73.000 Stück. Sie regeln das Gehalt, den Urlaub, Zuschläge und vieles mehr. Mancher Arbeitnehmer, der nicht „Tarif“ bekommt, betrachtet etwas neidisch die Rundum-Pakete der Tarifgebundenen. Andere wiederum sind froh, nicht in starre Entgeltgruppen und -stufen eingeteilt zu werden. Wie auch immer: Wir finden, jeder sollte die folgenden paar grundlegende Dinge über Tarifverträge wissen.
1. Tarifverträge sind garantiert
Die Begriffe Koalitionsfreiheit, Tarifverhandlungen und Gewerkschaft klingen nur solange langweilig, bis man sich verdeutlicht, dass genau diese Institutionen in der Vergangenheit zu vielfältigen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen geführt haben, von denen alle Arbeitnehmer – ob tarifgebunden oder nicht – heute profitieren. Ein Beispiel ist die Arbeitssicherheit, wo vieles, was heute als Standard gilt, erkämpft wurde. Das beruht darauf, dass Menschen, die sich zu Gruppen zusammenschließen, aus naheliegenden Gründen an Verhandlungsstärke gewinnen. Als Koalitionsrecht (Art. 9 Abs. 3 GG) wird das Recht bezeichnet, eben solche Gewerkschaften bzw. auch Arbeitgeberverbände zu gründen oder diesen beizutreten. Diese Vereinigungen haben sodann das Recht, ohne Einmischung von staatlicher Seite auf die Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hinzuwirken. Zum einen darf die Gewerkschaft bzw. der Arbeitgeberverband als solches nicht durch Einmischung von Seiten der Politik oder der Gerichte in ihren Verhandlungen behindert werden. Zum anderen dürfen auch dem einzelnen Arbeitnehmer aufgrund seiner Gewerkschaftszugehörigkeit keine Nachteile erwachsen oder in Aussicht gestellt werden. So ist eine Kündigung aufgrund der Gewerkschaftszugehörigkeit unwirksam. Ebenso ist jede Form der Schlechterbehandlung von Arbeitnehmern aufgrund ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit untersagt. Auch darf der Arbeitgeber keine Vorteile, z.B. in Form von Sonderzahlungen, für Gewerkschaftsaustritte in Aussicht stellen (so geschehen in dem Fall, der dem Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen, Urteil vom 09.03.2016, Az. 3 GA 3/16, zugrunde lag).
2. Tarifverträge sind Verhandlungsergebnisse
Tarifverträge regeln die Arbeitsbedingungen für mehrere Arbeitnehmer, also vor allem Arbeitszeit, Urlaub, Entlohnung und die Abwicklung des Arbeitsverhältnisses. Von diesen Regelungen darf nur abgewichen werden, wenn der Tarifvertrag dies zulässt. Ein Tarifvertrag wird von zwei Parteien verhandelt, auf der einen Seite der Arbeitgeber(verband) und auf der anderen Seite die Gewerkschaft. Je mehr Mitglieder die Gewerkschaft hat, desto streikfähiger und damit auch durchsetzungsfähiger ist sie. Durch die Verhandlungen entstehen also Regelungen, die einen Kompromiss zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen darstellen. Auf diese Verhandlungen dürfen durch Politik, Verwaltung oder Gerichte keinen Einfluss genommen werden (Koalitionsfreiheit, siehe oben).
3. Tarifverträge gelten nur für Gewerkschaftsmitglieder, es sei denn…
Manche Tarifverträge gelten überbetrieblich für viele hunderte oder tausende Arbeitnehmer, manche als so genannter Haustarifvertrag nur für die Mitarbeiter eines einzigen Arbeitgebers. Grundsätzlich gelten Tarifverträge allerdings nur für die Mitglieder der vertragschließenden Parteien, auf Arbeitnehmerseite also Gewerkschaftsmitgliedern. In der Praxis behandeln Arbeitgeber ihre Mitarbeiter allerdings häufig unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit nach dem jeweils geltenden Tarifvertrag. Dies dient unter anderem dem Betriebsfrieden, da es auf diese Weise nicht zu Ungleichbehandlungen kommt. Um die Gleichbehandlung herbeizuführen, vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag eine Gleichstellungsklausel, die beispielsweise so lautet:
„Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem Tarifvertrag xy einschließlich der diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung.“
Auf diese Weise kommen also auch nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer in den Genuss der durch die Gewerkschaft ausgehandelten Arbeitsbedingungen.
4. Ein Tarifvertrag kann auch „verordnet“ werden (Allgemeinverbindlichkeit)
Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, wonach ein Tarifvertrag auf ein Arbeitsverhältnis anzuwenden ist: Das Bundesministerium für Arbeit oder Soziales kann nach § 5 Tarifvertragsgesetz auf Antrag der Tarifvertragsparteien (Arbeitgeber(-verband) und Gewerkschaft) einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären. Dieser Tarifvertrag ist sodann für alle in dem Tarifvertrag erfassten Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich; unabhängig von Gewerkschaftszugehörigkeit oder Gleichstellungsabrede. Von den rund 73.000 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind knapp 450 allgemeinverbindlich. Das Bundesministerium für Arbeit oder Soziales erstellt regelmäßig ein im Internet einsehbares Verzeichnis dieser Tarifverträge.
5. Manches klappt nur, wenn alle mitmachen (müssen)
Der Hintergrund allgemeinverbindlicher Tarifverträge ist häufig der, dass die Regelungen nur dann effektiv wirken, wenn alle Betroffenen an den Tarifvertrag gebunden sind. Ein Beispiel ist die Sozialkasse des Baugewerbes, die sogenannte Soka-Bau. Mit diesem Rechtsinstitut beschäftigen sich in regelmäßigen Abständen die Gerichte, so auch aktuell wieder:
Die Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, kurz IG Bau, hatte mit zwei Arbeitgeberverbänden Tarifverträge über Sozialkassen im Baugewerbe abgeschlossen. Finanziert wird das Sozialkassenverfahren über Beiträge der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die unter die dazu geschlossenen Tarifverträge fallen. Der Tarifvertrag wurde allerdings in der Vergangenheit regelmäßig auf Antrag der IG Bau durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt, so dass auch nicht tarifgebundene Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen wurden. Nach § 98 Arbeitsgerichtsgesetz kann bei den Arbeitsgerichten die Feststellung der Unwirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung geltend gemacht werden, wenn einer der Beteiligten durch die Allgemeinverbindlichkeit in seinen Rechten verletzt ist. Das war hier geschehen und das Bundesarbeitsgericht hatte mit Beschluss vom 21.09.2016 (Az. 10 ABR 33/15) entschieden, dass die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge in der Vergangenheit unwirksam war. Die Gründe hierfür waren, dass die im damaligen Verfahren für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags erforderliche 50 %-Quote der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer nicht festgestellt werden konnte und außerdem „nur“ ein Referatsleiter im zuständigen Ministerium die Entscheidung über die Allgemeinverbindlichkeit getroffen hatte.
Gegen diesen Beschluss wiederum erhob die IG Bau Verfassungsbeschwerde. Sie machte geltend, die Feststellung der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung verletze sie in ihrem Recht auf „einmischungsfreien“ Abschluss von Tarifvereinbarungen (Art. 9 Abs. 3 GG). Sie argumentierte, das Bundesarbeitsgericht könne nicht Anforderungen formulieren, die die Allgemeinverbindlicherklärung erschweren. So sei es verfassungsrechtlich unhaltbar, wenn das Bundesarbeitsgericht fordere, dass sich die Spitze des Bundesministeriums mit der Allgemeinverbindlicherklärung befasse. Auch habe das Bundesarbeitsgericht die behauptete Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlichkeit nicht auch für die Vergangenheit („ex tunc“), sondern allenfalls für die Zukunft („ex nunc“) feststellen können.
Hintergrund ist, dass die beabsichtigte Absicherung aller Arbeitnehmer in der Baubranche durch die Sozialkassen nur erreicht werden kann, wenn alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfasst werden. Wenn nur die tarifgebundenen Arbeitgeber beitragspflichtig sind, entsteht eine Versorgungslücke, die die Existenz der Sozialkassen in Frage stellt.
6. Einen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit gibt es nicht
Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde als erfolglos zurück (Beschluss vom 10.01.2020, Az. 1 BvR 4/17).
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass aus Art. 9 Abs. 3 GG kein verfassungsrechtlicher Anspruch folgt, dass ein Tarifvertag von dem zuständigen Bundesministerium für allgemeinverbindlich erklärt wird.
Zwar könnten Tarifverträge „auf eine Allgemeinverbindlicherklärung angelegt“ werden. Jedoch könne der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen überlassen und die Bürgerinnen und Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, die ihnen gegenüber nicht demokratisch beziehungsweise mitgliedschaftlich legitimiert sind. Jedenfalls sei die staatliche Mitwirkung für die Bindung von Außenseitern an einen Tarifvertrag zwingend, und daher auch zu prüfen, ob die strengen Bedingungen dafür erfüllt sind. Insofern dürfe der Staat sich zwar nicht einmischen, habe aber einen Vorbehalt des öffentlichen Interesses und insofern Entscheidungsspielraum. Insbesondere könne die Entscheidung für eine Allgemeinverbindlicherklärung auch rückgängig gemacht werden.
Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG garantiere den Akteuren also, durch ihre Tätigkeit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Stärke und Erfolg in der Hinsicht, dass die Sozialkassen auf die außertariflichen Zahler angewiesen sind und sie per Allgemeinverbindlicherklärung auch zu erhalten habe sei hingegen nicht garantiert.
Die Vorgabe, dass im zuständigen Ministerium konkret personell Verantwortung übernommen wird, um die Allgemeinverbindlicherklärung zu legitimieren, sei vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden und beeinträchtige das Koalitionsrecht in keiner Weise.
Die Vorgabe der damaligen 50-%-Klausel schränke zwar die Möglichkeiten der Koalition ein, es bestehe aber nach wie vor eine realisierbare Chance, die Freiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Anspruch zu nehmen. Auch diese Hürde sei daher nicht zu beanstanden.
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