Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 09.07.2015 (Balkaya)
Zum unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff bei Massenentlassungen
Was ist eine Massenentlassung?
Eine
Massenentlassung ist eine Entlassung einer Vielzahl von Arbeitnehmern gleichzeitig oder innerhalb von 30 Tagen.
§ 17 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) regelt, dass ein Arbeitgeber in einem solchen Fall der Agentur für Arbeit Mitteilungen machen muss – die Massenentlassungsanzeige -, bevor er die Entlassungen durchführt. Bei welcher Anzahl zeitlich eng beieinander liegender Entlassungen die Anzeigepflicht ausgelöst wird, regelt § 17 Abs. 1 Nr. 1. bis 3. KSchG abhängig von der Größe des Betriebs: Je größer, desto mehr Arbeitnehmer müssen betroffen sein. Wird diese Massenentlassungsanzeige trotz Überschreiten des Schwellenwertes unterlassen, führt das zur
Unwirksamkeit der Kündigungen.
Mit § 17 KSchG wurde die sog.
EG-Massenentlassungsrichtlinie, die Richtlinie 98/59/EG, in deutsches Recht umgesetzt. Die Regelung dient arbeitsmarkpolitischen Zielen: Die Agentur für Arbeit soll rechtzeitig in die Lage versetzt werden, Maßnahmen für die betroffenen Arbeitnehmer zu veranlassen.
Wer zählt, wenn es um Massenentlassungen geht?
Eigentlich ist § 17 KSchG eindeutig: Es ist Anzeige, zu erstatten wenn eine bestimmte Anzahl von “Arbeitnehmern” entlassen wird.
Was genau einen Arbeitnehmer ausmacht, ist allerdings im deutschem Recht nicht geregelt. Der Arbeitnehmerstatus wird aus einer Vielzahl von Kriterien im Einzelfall ermittelt. Nach diesem Verständnis sind keine Arbeitnehmer in der Regel Praktikanten, denn diese werden nur vorübergehend zu Erfahrungs- und Ausbildungszwecken in einem Betrieb tätig; das Erzielen von Arbeitsergebnissen ist dabei nachrangig. Ebenfalls in aller Regel keine Arbeitnehmer sind Geschäftsführer, sie repräsentieren und vertreten die Gesellschaft.
Hinzu kommt, dass der Begriff des Arbeitnehmers nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Recht vorkommt. Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Euroäischen Union (AEUV) regelt, dass innerhalb der Europäischen Union unterschiedliche Behandlungen von Arbeitnehmern abzuschaffen sind.
Im europarechtlichen Kontext können die Gerichte aber nicht ohne Weiteres das deutsche Verständnis heranziehen, was einen Arbeitnehmer ausmacht, denn dieses Verständnis ist nicht in alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einheitlich. Die Auslegung des AEUV und damit auch die Bestimmung des
unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs für alle Mitgliedsstaaten obliegt deshalb dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Arbeitnehmer ist nach der Definition des EuGH eine Person, die während einer bestimmten Zeit weisungsgebundene Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Mit diesem weiten Verständnis erkennt der EuGH auch Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft zu, die diese nach deutschem Recht nicht besitzen.
Der Fall – 18 Arbeitnehmer plus… ?
Die Frage, ob der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff für § 17 KSchG relevant ist und wer unionsrechtlich als Arbeitnehmer zählt, ist in einem Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Verden relevant geworden.
Die beklagte Kiesel Abbruch- und Recycling Technik GmbH plante, zum 15.02.2013 den Geschäftsbetrieb vollständig stillzulegen und kündigte in Umsetzung dieser Entscheidung sämtliche Arbeitsverhältnisse betriebsbedingt. Zu diesem Zeitpunkt waren bei der Gesellschaft 18 Arbeitnehmer beschäftigt sowie ein Konstrukteur, der nach seiner Eigenkündigung ausschied, ferner ein Geschäftsführer, der keine Anteile an der Gesellschaft hielt und schließlich eine Bürokauffrau im Rahmen einer geförderten Umschulungsmaßnahme. Eine Massenentlassungsanzeige führte die Kiesel Abbruch- und Recycling Technik GmbH vor Ausspruch der Kündigungen nicht durch.
Unter den gekündigten Arbeitnehmern war der Servicetechniker Herr Balkaya. Gegen die Kündigung vom 07.01.2013 erhob er Klage vor dem Arbeitsgericht Verden mit dem Argument, die erforderliche Massenentlassungsanzeige sei unterblieben. Er war der Ansicht, die genannten Personen seien zu den Arbeitnehmern hinzuzurechnen, so dass mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt seien und eine Anzeigepflicht daher bestanden hätte.
Da es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die Frage ankam, ob der Geschäftsführer der Beklagten und / oder die Umschülerin als Arbeitnehmer zu zählen sind, unterbrach das Arbeitsgericht Verden den Rechtsstreit und legte dem EuGH die Frage vor, wer hinsichtlich der Massenentlassungsanzeige als Arbeitnehmer anzusehen ist (Vorlage des Arbeitsgerichts Verden vom 06.05.2014, Aktenzeichen 1 Ca 35/13).
Die Entscheidung – Geschäftsführer und Praktikantin zählen mit
Der EuGH teilte dem Arbeitsgericht Verden mit, dass – da § 17 KSchG auf der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG – beruht, der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff entscheidend ist und es daher nicht darauf ankommt, ob das zugrunde liegende Vertragsverhältnis nach deutschem Recht ein Arbeitsvertrag ist (Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 09.07.2015 (Balkaya), Aktenzeichen C-229/14). Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff ist so zu verstehen, dass auch Geschäftsführer, die Weisungen unterliegen, und Praktikanten hierunter fallen.
In diesem Ergebnis sieht sich der EuGH durch den Zweck der Richtlinie bestätigt, da es auch bei Geschäftsführern (und Praktikanten) sinnvoll sei, wenn die zuständige Arbeitsbehörde in Kenntnis über deren kommende Entlassung gesetzt werde.
In der Konsequenz wird das Arbeitsgericht Verden aller Voraussicht nach die Kündigung des Herrn Balkaya wegen fehlender Massentlassungsanzeige für unwirksam erklären.
Fazit
Das Urteil des EuGH führt die Rechtsprechung der vorangegangenen Entscheidungen
Junk und
Danosa fort und bestätigt sein weites Verständnis des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs. Zugleich nimmt sich der EuGH die Kompetenz, diesen Arbeitnehmerbegriff auf die Schwellenwerte des § 17 KSchG anzuwenden, weil dieser auf einer unionsrechtlichen Richtlinie beruht.
Für die Zukunft werden bei Personalabbaumaßnahmen daher für die Ermittlung der Arbeitnehmer im Sinne der Massenentlassungsanzeigepflicht alle Personen zu berücksichtigen sein, die nach dem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff Arbeitnehmer sind oder – aus Vorsicht – solche, die es potenziell sein könnten. Hierunter fallen, wie der EuGH ausgeführt hat, weisungsgebundene Geschäftsführer, Arbeitnehmer in Umschulungsmaßnahmen und Praktikanten, in Betracht kommen ferner Ein-Euro-Jobber und Vorstände.
Wegen des Risikos der Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen bedarf eine Massenentlassung daher mehr noch als bisher einer gründlichen Vorbereitung und Prüfung.
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