Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29.11.2017, Az. C-214/16
Weihnachtszeit ist Urlaubszeit. Viele Arbeitnehmer planen ein paar ruhige Tage um den Jahreswechsel schon zu Jahresbeginn ein. In manchen Fällen ordnet der Arbeitgeber Betriebsurlaub zwischen Weihnachten und Neujahr an, was in der Regel rechtens ist, wenn im gesamten Betrieb nicht gearbeitet wird. Andere Arbeitnehmer wiederum haben zum Jahresende hin noch offene Urlaubsansprüche und müssen nun klären, ob diese in das neue Jahr übertragen werden oder womöglich jetzt noch schnell genommen werden müssen.
Gehen Urlaubstage ins nächste Jahr über? Grundsätzlich nicht, aber…
Das Gesetz sieht die Übertragung von Urlaub ins Folgejahr nur in zwei Ausnahmefällen vor. Wenn der Urlaub wegen Belastungsspitzen („dringende betriebliche Gründe“) oder Krankheit („persönliche Gründe“) nicht genommen werden konnte, wird er per Gesetz in das erste Quartal des Folgejahres übertragen, muss in dieser Zeit dann aber auch genommen werden, § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz.
In allen anderen Fällen soll sich aus einem Umkehrschluss der obigen Regelung ergeben, dass der Resturlaub mit dem 31. Dezember verfällt. Das gilt insbesondere für freiwillig nicht genommenen Urlaub. Freiwillig bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass der Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber „nicht im Stich lassen“ möchte, wegen Karriereambitionen keinen Urlaub nimmt oder es schlicht versäumt, entsprechende Urlaubsgesuche zu stellen. In all diesen Fällen kann der Arbeitgeber nach aktuellem Stand der Rechtsprechung aus Wohlwollen noch Urlaubsansprüche aus dem alten Jahr berücksichtigen, muss dies aber nicht.
Eine einvernehmliche Übertragung von Resturlaub zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bleibt immer möglich, sollte aber aus Sicht des Arbeitnehmers immer schriftlich festgehalten werden, denn dieser muss das Noch-Bestehen von Urlaubsansprüchen im neuen Jahr im Ernstfall beweisen. Auch für Urlaubsansprüche, die aus den gesetzlich genannten Gründen übertragen werden, ist der Arbeitnehmer beweispflichtig, was in der Praxis schwierig sein kann. Auch hier empfiehlt sich also, diesen Umstand schriftlich festzuhalten und vom Arbeitgeber bestätigen zu lassen.
Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses: Abgeltung des Resturlaubs
Interessant wird die Frage nach offenen Urlaubsansprüchen insbesondere am Ende eines Arbeitsverhältnisses. Der zu diesem Zeitpunkt noch bestehende Anspruch ist in Geld umzurechnen und auszuzahlen. Diese Urlaubsabgeltung bemisst sich wie das Urlaubsentgelt nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst der letzten dreizehn Wochen mit Ausnahme des zusätzlich für Überstunden gezahlten Arbeitsverdienstes und Zahlungen, die nicht direkt mit der Arbeitsleistung in Zusammenhang stehen, z.B. Aufwendungsersatz (§ 11 Abs. 1 S. 1 Bundesurlaubsgesetz).
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Keine finanzielle Abgeltung im laufenden Arbeitsverhältnis
Im laufenden Arbeitsverhältnis darf noch offener Urlaub nicht finanziell abgegolten werden. Die Konstellation, dass ein Arbeitnehmer zwei Wochen Urlaub im Jahr statt der ihm zustehenden vier Wochen nimmt und dafür zwei Wochen „ausgezahlt bekommt“, ist vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewünscht und führt – zumindest bis zum Jahresende – daher auch nicht zum Verlust des Urlaubsanspruchs für die zwei verbleibenden Wochen. Der Arbeitnehmer kann also stets seinen gesamten Jahresurlaub nehmen. Auch die Zahlung kann der Arbeitgeber jedenfalls dann nicht zurückverlangen, wenn er den Arbeitnehmer wider besseren Wissens in diese Situation gedrängt hat (§ 814 BGB).
Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts: Wird Urlaub genommen oder gewährt?
Es gibt unter den Landesarbeitsgerichten Tendenzen, die Verantwortung für die Urlaubsgewährung vollständig dem Arbeitgeber aufzubürden. Urlaub, jedenfalls der Mindesturlaub, soll demnach durch den Arbeitgeber proaktiv gewährt werden müssen. Anderenfalls entstehe zum Jahresende ein Anspruch auf „Ersatzurlaub“, faktisch wird also der Resturlaub übertragen.
In eine ähnliche Richtung kann ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2014 verstanden werden, wonach zumindest die Vererblichkeit eines Urlaubsanspruchs nicht von dessen Beantragung abhängt (Urteil des EuGH vom 12.06.2014, Az. C 118/13).
Im Jahr 2016 legte das Bundesarbeitsgericht (BAG) dem Europäischen Gerichtshof einen anderen Fall zur Entscheidung vor. Hier hatte der Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Abgeltung von über mehrere Jahre angesammelten Urlaub geltend gemacht. Das Bundesarbeitsgericht ließ allerdings bereits im Vorlagebeschluss durchblicken, dass nach hiesiger Ansicht der Urlaub verfallen sei und lediglich das besagte Urteil des EuGH aus dem Jahr 2014 zu einer entsprechenden Rechtsunsicherheit führe, die Frage also quasi nur vorsorglich gestellt werde (Vorlagebeschluss des BAG vom 13.12.2016, Az. 541/15; Pressemitteilung). Entschieden hat der EuGH in dieser Angelegenheit noch nicht.
EuGH: Ansammeln von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren ist möglich
Aktuell hat der Europäische Gerichtshof allerdings einen Fall aus Großbritannien entschieden, in dem es ebenfalls um die Verantwortlichkeit der Urlaubsgewährung ging.
Was war passiert?
Der Kläger arbeitete bis zu seinem Ruhestand drei Jahre lang auf vermeintlich selbständiger Basis für ein britisches Unternehmen. Anspruch auf bezahlten Urlaub sollte er nicht haben, entsprechend wurden soweit bekannt keine Urlaubsanträge gestellt. Nach Beendigung des Vertrags verlangte er sodann Zahlung für den nicht genommenen Urlaub für die gesamten drei Jahre seiner Tätigkeit.
Das angerufene britische Gericht stellte zunächst fest, dass der Kläger nicht auf selbständiger Basis gearbeitet hatte, sondern Arbeitnehmer war. Als solchem hatte er Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub (Falls Sie sich fragen, wie man Selbständige und Arbeitnehmer unterscheidet: Näher dazu hier).
Das Gericht befragte den Europäischen Gerichtshof dazu, ob ein Arbeitnehmer unter der Voraussetzung Urlaubsansprüche über mehrere Jahre ansammeln kann, dass der Urlaub deshalb nicht genommen wurde, weil der Arbeitgeber sich weigert, die Urlaubszeiten zu vergüten.
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs: Arbeitgeber nicht schutzwürdig
Der Europäische Gerichtshof entschied, dass der Jahresurlaub dazu dient, dass der Arbeitnehmer sich erholen und entspannen kann. Dass sei aber nur möglich, wenn der Arbeitnehmer sich seiner Vergütung für die Urlaubszeit auch sicher sein kann. Anderenfalls werde der Arbeitnehmer unter Umständen abgehalten, seinen Urlaub zu nehmen.
Darüber hinaus müsse es dem Arbeitnehmer möglich sein, bei Verweigerung der Bezahlung des Jahresurlaubs durch den Arbeitgeber diesen über mehrere Jahre ansammeln zu können. Der Arbeitgeber sei nicht schutzwürdig, sondern habe davon profitiert, dass der Arbeitnehmer ununterbrochen gearbeitet habe. Es sei Aufgabe des Arbeitgebers, sich über seine Pflichten zur Bezahlung von Jahresurlaub zu informieren. Eine anderweitige Praxis dürfe nicht durch Erlöschen des Urlaubsanspruchs zum Jahresende gebilligt werden.
Konsequenzen nicht nur für „falsche Freelancer“
Das Urteil hat direkte Konsequenzen für Fälle der „falschen Freelancer“, also derjenigen vermeintlich freien Mitarbeiter, die tatsächlich oder jedenfalls nach der Bewertung der Sozialversicherungsträger Arbeitnehmer sind (näher dazu hier) Für diese ist üblicherweise kein bezahlter Jahresurlaub vorgesehen. Künftig werden sich diese Mitarbeiter auf das aktuelle EuGH-Urteil berufen können mit der Folge, dass ein Urlaubsanspruch in Höhe des Mindesturlaubs für eine unbegrenzte Dauer in der Vergangenheit ausgezahlt werden muss, wenn das Vertragsverhältnis endet.
Mindestens ebenso wichtig ist aber, was sich aus dem Urteil an allgemeinen Tendenzen ablesen lässt. Der EuGH hat in seiner Pressemitteilung einen Leitsatz formuliert, der diese Tendenz möglicherweise anzeigt:
„Ein Arbeitnehmer muss die Möglichkeit haben, nicht ausgeübte Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu übertragen und anzusammeln, wenn der Arbeitgeber ihn nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben.“
Zwar bedeutet das noch nicht, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer offenen Urlaub aufdrängen muss. Der EuGH legt die Urlaubsrichtlinie in dem aktuellen Fall aber zumindest so aus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht – auch nicht indirekt – an der Inanspruchnahme des Urlaubs hindern darf. Anderenfalls sammelt dieser Urlaubsansprüche auch über die Jahresgrenzen hinweg an.
Fazit: Urlaub könnte bald Chefsache sein
Ob die Gerichte aus diesen Überlegungen noch eine erweiterte Pflicht herleiten werden, die Gewährung jedenfalls des Mindesturlaubs in die Verantwortung des Arbeitgebers zu verlagern, bleibt abzuwarten. Denkbar wäre dies nach den Ausführungen des EuGH und das deutsche Recht würde einer solchen Regelung jedenfalls nicht entgegenstehen.
Aktuell gilt daher: Wenn der Arbeitnehmer aus Arbeitseifer keine Urlaubswünsche äußert und seinen Urlaub nicht nimmt, verfällt dieser. Verhindert der Arbeitgeber die Inanspruchnahme von Urlaub – entweder durch Nichtzahlung von Urlaubsentgelt oder durch anderweitige Verweigerung – kumulieren sich die Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers und sind am Ende des Arbeitsverhältnisses vollständig abzugelten.
Eine Entscheidung des EuGH über die Vorlage des BAG vom 13.12.2016 könnte hier noch zu einer deutlichen Verschärfung führen. Der EuGH könnte andeuten oder sogar klar aussprechen, dass künftig der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers nicht mehr untergeht, wenn der Urlaub nicht von Seiten des Arbeitgebers proaktiv gewährt wurde. Sollte der EuGH die Urlaubsrichtlinie in diese Richtung verstehen, wäre abzuwarten, welche Konsequenzen das Bundesarbeitsgericht, dass seit jeher anders entscheidet, hieraus ziehen würde.
Arbeitgebern, in deren Betrieb Urlaub schon einmal „untergeht“, ist daher zu raten, diese Rechtsprechung aufmerksam zu verfolgen.
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