Wenn einem der Kündigungsschutz den Kündigungsschutz verbaut
Massenentlassungen bei Elternzeit
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 26.01.2017 (Az. 6 AZR 442/16)
Was tun bei wirtschaftlicher Schieflage? Einer der ersten Personalverantwortlichen-Gedanken ist oft: Stellenabbau oder geschönt formuliert Verschlankung der Prozesse. Bei größeren Unternehmen wird dann in den Medien oft von einer „Kündigungswelle“ gesprochen. Arbeitsrechtlich gesehen handelt es sich bei solchen Vorkommnissen häufig um eine Massenentlassung. Und dieses Etikett ist trotz des ebenso unschönen Wortlautes für die betroffenen Arbeitnehmer nicht etwa ein Nachteil, sondern ein Vorteil.
Eine Massenentlassung liegt vor, wenn innerhalb von 30 Tagen eine in § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) definierte Anzahl an Arbeitnehmern entlassen wird. In Betrieben mit 20 bis 60 Arbeitnehmern ist das ab dem 6. Arbeitnehmer der Fall, in Betrieben unter 500 Arbeitnehmern ab dem 26. Arbeitnehmer oder ab 10 % der Belegschaft und in Betrieben ab 500 Arbeitnehmern bei mindestens 30 Arbeitnehmern. Als Faustformel kann man sagen: Pro Standort müssen diese Schwellenwerte erreicht sein (nicht auf das ganze Unternehmen betrachtet, wenn es mehrere Standorte gibt). Wer als Arbeitnehmer zu zählen ist, haben wir hier besprochen.
Für den Arbeitgeber bedeutet eine Massenentlassung zusätzlichen Stress. Er hat nun besondere Pflichten zum Schutz der Arbeitnehmer zu beachten, vor allem die Vornahme der Massenentlassungsanzeige. Fehler können zur Unwirksamkeit in der Regel aller Kündigungen führen. Wo also schon eine „normale“ Kündigung häufig fehlerhaft ist, gibt es hier noch mehr Möglichkeiten, Fehler zu machen. Wird hier nicht sehr sorgfältig gearbeitet, kann das den betroffenen Arbeitnehmern in einem Kündigungsschutzprozess eine bedeutend bessere Verhandlungsposition zuspielen.
Um eine fehlerhafte Massenentlassung und eine Arbeitnehmerin in Elternzeit ging es aktuell vor dem Bundesarbeitsgericht.
Im Jahr 2009 geriet eine griechische Fluggesellschaft in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Niederlassung in Deutschland mit 36 Arbeitnehmern musste geschlossen werden.
Eine Arbeitnehmerin befand sich zu dem Zeitpunkt in Elternzeit, als wegen der Betriebsstilllegung Kündigungen ausgesprochen wurden. Den Kündigungen war eine Massenentlassungsanzeige vorausgegangen, in die die spätere Klägerin nicht einbezogen wurde. Für diese wurde statt dessen das behördliche Zustimmungsverfahren eingeleitet, da eine Kündigung in der Elternzeit nur ausgesprochen werden kann, wenn eine behördliche Zustimmung vorliegt. Die Massenentlassungsanzeige bzw. die Konsultation des Betriebsrates hinsichtlich der übrigen Arbeitnehmer war allerdings fehlerhaft. Das Ergebnis: Die hiermit verknüpften Kündigungen waren unwirksam.
Was bedeutete das nun für die Klägerin? Grundsätzlich nichts, denn sie war ja in das Verfahren nicht einbezogen worden. Ihr wurde erst später nach Eingang der behördlichen Zulässigkeitserklärung und nach Ablauf von 30 Tagen nach der ersten Kündigungswelle gekündigt. Durch die isolierte Kündigung lag eine massenentlassungsrelevante Arbeitnehmerzahl nicht mehr vor, denn es gab innerhalb von 30 Tagen keine andere Kündigung als die der Klägerin. Ein Massenentlassungsverfahren war daher nicht durchzuführen und konnte auch nicht fehlerhaft durchgeführt werden.
Das wollte die gekündigte Arbeitnehmerin nicht recht einsehen. Sie stand auf dem Standpunkt, dass sie ebenfalls von der fehlerhaften Massenentlassungsanzeige „profitiert“ hätte, hätten nicht die Sonderregelungen wegen der Elternzeit angewandt werden müssen. Die Elternzeit dürfe aber nicht zu Nachteilen führen. Daher klagte die Frau gegen ihre Kündigung mit dem Ziel, diese ebenfalls für unwirksam zu erklären.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) sah das anders und erklärte die Kündigung für wirksam. Nach Auffassung des Gerichts lag keine Massenentlassung vor, da die Kündigung nicht im Zusammenhang mit der Kündigung der anderen Beschäftigten erfolgt. Sie war daher nicht anzeigepflichtig und im Übrigen wirksam (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25.04.2013, Az. 6 AZR 49/12).
Das hierzu per Verfassungsbeschwerde angerufene Bundesverfassungsgericht hob das Urteil des Bundesarbeitsgericht im vergangenen Jahr auf (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.2016, Az. 1 BvR 3634/13; externer Link).
Das Bundesverfassungsgericht ist der Auffassung, ein Vorgehen wie im obigen Fall verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, denn die Elternzeit ist grundrechtlich geschützt (Art. 6 Abs. 1 GG). Die Klägerin sei aber unmittelbar aufgrund der Inanspruchnahme der Elternzeit von dem Anwendungsbereich und damit auch dem Schutzbereich der Massenentlassungsanzeige ausgenommen worden (Zur Entscheidung; externer Link), diese Ungleichbehandlung sei nicht zu rechtfertigen.
Das Bundesverfassungsgericht kritisierte in der Entscheidung zumindest unterschwellig auch das Bundesarbeitsgericht, indem es dessen aus seiner Sicht falsche Ergebnis auf die verfassungswidrige „Handhabung des Kündigungsschutzes durch das Bundesarbeitsgericht“ zurückführt.
Der Fall landete daher aktuell erneut vor dem Bundesarbeitsgerichts, welches sich – offenbar zähneknirschend – der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beugte und die Kündigung nun für unwirksam erklärte (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.01.2017, Az. 6 AZR 442/16, zur Pressemitteilung vom 26.01.2017; externer Link).
Noch in der kurzen Pressemitteilung wies das Bundesarbeitsgericht darauf hin, dass es durch diese Sichtweise zu kaum handhabbaren Problemen kommt, beispielsweise wenn eine Elternzeitkündigung Teil einer zweiten, massenentlassungsanzeigerelevanten Kündigungswelle ist.
Massenentlassungsvorschriften sind Arbeitnehmerschutzvorschriften. Da liegt es grundsätzlich nahe, sich als Elternzeit-Arbeitnehmer mit unter den Schirm der Massenentlassungsanzeige stellen zu wollen, zumal wenn es dort zu Fehlern gekommen ist. Andererseits: Für die Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz gibt es speziellen Schutz, das behördliche Zustimmungsverfahren. Genau dieses Verfahren war der Grund dafür, dass die Arbeitnehmerin eigentlich kein Teil der Entlassungswelle mehr war, sondern später einzeln gekündigt wurde. Zieht man nun beides zusammen, entsteht eine Privilegierung.
Das Bundesverfassungsgericht lässt den Rechtsanwender etwas ratlos zurück. Praktisch umsetzbar ist der Beschluss nämlich nur, indem künftig bei Massenentlassungen zusätzlich sämtliche Kündigungen mit angezeigt werden, die aufgrund von behördlichen Zustimmungserfordernissen erst später – auch nach Ablauf der 30 Tage – beabsichtigt sind. So steht es zwar nicht im Gesetz, aber nur auf diese Weise können solche Arbeitnehmer sich bei einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige auf diese auch berufen, werden also nicht diskriminiert.
Das ist auf eine Weise konsequent, denn ein Arbeitgeber, der das behördliche Zustimmungsverfahren auf sich nimmt, wird nach erfolgter Zustimmung auch die Kündigung aussprechen. Andererseits führt die Konstruktion zu Problemen bei anderen Fallgestaltungen, wie das Bundesarbeitsgericht schon in der Pressemitteilung anmerkt.
Kommende Fälle werden zeigen müssen, wie die Entscheidung, mit der sich das Bundesarbeitsgericht so schwer tut, die Praxis beeinflusst.
Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz ist aktuell zu raten, zu versuchen, sich bei vorangegangenen Massenentlassungen in das Massenentlassungsverfahren einzuklinken, um Fehler in diesem Verfahren verwerten zu können.
Arbeitgeber sollten bis zu einer weiteren Klärung größte Sorgfalt bei der Ermittlung der Schwellenwerte walten lassen und vorsorglich Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz, deren behördliche Zustimmungsverfahren laufen oder eingeleitet werden, mitzählen.
Haben Sie Fragen zu dem Thema Massenentlassung oder Sonderkündigungsschutz? Wir helfen Ihnen gerne weiter.
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