Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 09.11.2017
Das deutsche Arbeitszeitgesetz in seiner aktuellen Fassung wird von der Wirtschaft als zu unflexibel und nicht mehr zeitgemäß kritisiert. Die arbeitgeberseitigen Forderungen erklären sich daraus, dass vor allem die starren Zeitgrenzen gerade im grenzüberschreitenden (industriellen) Gewerbe hinderlich sind und teilweise auch Arbeitnehmer in kreativen oder verantwortlichen Positionen eine Aufweichung der Regelungen wünschen. Diese Rufe werden von der Politik gehört, das zuständige Ministerium unter Frau Nahles hatte bereits Reformpläne vorgelegt. Insbesondere sollen versuchsweise die festen Zeitgrenzen in einem experimentellen Zeitraum einem Praxistest unterzogen werden.
Im Fokus der Diskussion stehen insbesondere die festgelegten Ruhezeiträume.
Die tägliche 11-stündige Ruhezeit
Nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit müssen Arbeitnehmer eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 11 Stunden haben, § 5 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Eine Verkürzung ist lediglich für bestimmte Berufsgruppen möglich und muss mit einem später gewährten verlängerten Ruhezeitraum ausgeglichen werden.
Der Gesetzgeber nimmt die Ruhezeit also ernst. Was bedeutet sie genau? Schon vor 15 Jahren hat der Europäische Gerichtshof bestimmt, dass es sich um eine Zeit handeln muss, in der der Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber keinerlei Verpflichtungen unterliegt, die ihn daran hindern, seinen eigenen Interessen nachzugehen. Eine Besonderheit ist Rufbereitschaft: Diese erfüllt die Ruhezeit, solange kein Arbeitseinsatz erfolgt.
Die wöchentliche 24-stündige Ruhezeit
Eine andere Ruhefrist ist der Grundsatz des arbeitsfreien Sonntags. Das deutsche Recht kennt das klassische Wochenende, bestehend aus 2 freien Tagen, nicht. Nach § 9 Abs. 1 ArbZG dürfen Arbeitnehmer lediglich an Sonn- und Feiertagen zwischen 0 Uhr und 24 Uhr nicht beschäftigt werden. Zu einer 6-Tage-Woche ist ein Arbeitnehmer also verpflichtet, wenn der Arbeitgeber es so verlangt und der Arbeitsvertrag nichts anderes regelt.
Allerdings lässt das Sonntagsarbeitsverbot in § 10 ArbZG für 16 (!) Fallgruppen Ausnahmen zu, welche wiederum teilweise weit gefasst sind und entsprechend viele Arbeitnehmer erfassen (z.B. im medizinischen Notfall- und Pflegesektor, in Hotels und Gaststätten, im Bewachungsgewerbe, „bei Schaustellungen, Darbietungen und anderen ähnlichen Veranstaltungen“, „beim Sport und in Freizeit-, Erholungs- und Vergnügungseinrichtungen“, „zur Verhütung des Verderbens von Naturerzeugnissen“).
Solche Arbeitnehmer könnten demnach von ihrem Arbeitgeber an jedem Wochentag und damit an unendlichen vielen aufeinanderfolgenden Tagen zur Arbeitsleistung herangezogen werden.
Dies verhindert § 11 Abs. 3 ArbZG:
„Werden Arbeitnehmer an einem Sonntag beschäftigt, müssen sie einen Ersatzruhetag haben, der innerhalb eines den Beschäftigungstag einschließenden Zeitraums von zwei Wochen zu gewähren ist.“
(§ 11 Abs. 3 ArbZG)
Hierbei ist egal, wie lange oder wie schwer der Arbeitseinsatz an dem Sonntag war; es muss ein Ersatzruhetag in einem Umfang von 0 Uhr bis 24 Uhr gewährt werden. Als Ersatzruhetag kommt jeder Werktag der Woche in Betracht, auch ein nach Schichtplan arbeitsfreier Werktag oder ein ohnehin arbeitsfreier Samstag. Gibt es keinen bereits geplanten freien Tag innerhalb des 2-Wochen-Zeitraums, muss der Arbeitgeber einen arbeitsfreien Tag bestimmen.
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Das deutsche Recht: Maximal 13 aufeinanderfolgende Arbeitstage
Wird der Ersatzruhetag nach der geleisteten Sonntagsarbeit gewährt, muss also mindestens ein Tag bis einschließlich Samstag der übernächsten Woche frei sein.
Beispiel: Der Arbeitnehmer ist Krankenpfleger in einem Krankenhaus und arbeitet in der ersten Woche von montags bis einschließlich sonntags, in der darauffolgenden Woche von montags bis einschließlich freitags, der zweite Samstag ist der Ersatzruhetag.
Hier sind also maximal 12 aufeinanderfolgende Arbeitstage möglich.
Das Gesetz schreibt aber nicht vor, dass dieser Ersatzruhetag nach dem Sonntag liegen muss. Nach derzeitigem Stand kann er auch vor dem Sonntag liegen, sodass zumindest kurzzeitig insgesamt 13 Arbeitstage aufeinander folgenden können:
Beispiel: Der Arbeitnehmer ist Krankenpfleger in einem Krankenhaus. Der Montag der ersten Woche ist als Ersatzruhetag für den kommenden Sonntag arbeitsfrei, gearbeitet wird sodann von Dienstag bis Sonntag und sodann von Montag der zweiten Woche bis einschließlich Sonntag der zweiten Woche. Für diesen zweiten gearbeiteten Sonntag muss sodann im Anschluss innerhalb von 2 Wochen ein Ausgleichstag erfolgen.
Das europäische Recht: Mindestens 24 Ruhestunden pro Siebentageszeitraum
Soweit das deutsche Recht. Allerdings gibt es im europäischen Recht – welches dem deutschen Recht vorgeht und dieses im Ernstfall „schlägt“ – eine Regelung, die einer Arbeitsleistung über 6 aufeinanderfolgende Tage hinaus zumindest auf den ersten Blick entgegensteht:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden (…) gewährt wird.“
(Artikel 5 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie))
Die deutschen Arbeitnehmer, die nicht zu Sonntagsarbeit herangezogen werden können, haben automatisch einen freien Tag pro Siebentageszeitraum, nämlich den Sonntag. Aber was ist mit den übrigen Arbeitnehmern, müssen auch diese nach dem europäischen Recht nach 6 Arbeitstagen mindestens einen freien Tag haben? In diesem Fall wäre die aktuelle Regelung des Arbeitszeitgesetzes unwirksam.
Der Europäische Gerichtshof hat zu dieser Frage aktuell Stellung genommen.
Was war passiert? Portugiesischer Arbeitnehmer arbeitet an 7 aufeinanderfolgenden Tagen und klagt
Geklagt hatte der portugiesische Arbeitnehmer Marques da Rosa, welcher in einem Casino beschäftigt war. Während seiner Arbeitstätigkeit hatte Herr da Rosa mehrfach 7 aufeinanderfolgende Tage gearbeitet, bevor ihm ein Ruhetag gewährt wurde. Er klagte auf Entschädigung in Höhe der an dem jeweils siebten Tag gearbeiteten Stunden als Überstundenvergütung.
Er berief sich auf die europäische Regelung und argumentierte, dass hiernach spätestens nach sechs aufeinanderfolgenden Tagen ein freier Tag gewährt werden, der siebte Tag also arbeitsfrei bleiben müsse. Da er gleichwohl gearbeitet habe, stünde ihm hierfür eine gesonderte Vergütung zu.
Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Bis zu 12 Tage hintereinander sind in Ordnung
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied anders. Er legte Artikel 5 der Arbeitszeitrichtlinie wie folgt aus: Es sei zwar so, dass Arbeitnehmern innerhalb der Europäischen Union mindestens ein freier Tag pro Woche zusteht. Darunter sei aber nicht zwingend ein „jeweils-7-Tage-Zeitraum“ zu verstehen. Auf welchen Tag der Woche der Ruhetag gelegt wird, sei vielmehr variabel. Der Arbeitgeber könne hierfür also auch den ersten arbeitsfreien Tag auf den Montag legen, den Arbeitnehmer anschließend 12 Tage lang beschäftigen und den zweiten arbeitsfreien Tag auf den darauffolgenden Sonntag legen. Einen Anspruch auf einen freien Tag innerhalb eines 7-Tage-Zeitraums gibt es demnach nicht (Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 09.11.2017, Az. C 306-16).
Der EuGH wies weiter darauf hin, dass diese Regelung auch im Arbeitnehmerinteresse liegen könne, da es auf diese Weise zu mehreren aufeinanderfolgenden Ruhetagen kommen könne (im Beispielsfall Montag und Sonntag). Außerdem sei des den Mitgliedsstaaten unbenommen, über dieses Schutzniveau mit ihren nationalen Gesetzen hinauszugehen.
Fazit: Teilweise Bestätigung, teilweise Verschärfung des deutschen Rechts
Der EuGH legt stets großen Wert auf Arbeitnehmerschutz, das hat er in der Vergangenheit vielfach deutlich gezeigt. Es ist daher ein Stück weit überraschend, dass die Arbeitszeitrichtlinie nun arbeitgeberfreundlich flexibel ausgelegt wird. Daher vermutlich auch die weiteren Ausführungen des Gerichtshofs zu den Auswirkungen, die sich fast wie eine Rechtfertigung lesen. Insgesamt kommt das Urteil der (künftigen) Bundesregierung entgegen, da es ein Signal für die offenbar angestrebte Flexibilität im Arbeitszeitrecht gibt und im Übrigen in weiten Teilen die aktuelle deutsche Regelung bestätigt.
Die Antwort auf die obige Frage lautet also: Entweder muss ein Arbeitnehmer in Deutschland bis zu 6 Tagen oder bis zu 12 Tagen am Stück arbeiten, je nachdem, ob die Tätigkeit den Sonntagseinsatz gestattet. In jedem Fall muss insgesamt für 6 gearbeitete Tage ein freier Tag gewährt werden.
Für Arbeitnehmer, die nicht von den Ausnahmen von der Sonntagsarbeit betroffen sind, bleibt alles beim Alten: Der Sonntag muss arbeitsfrei bleiben, daher ist automatisch mindestens jeder siebte Tag arbeitsfrei und der europäischen Regelung in jeder Hinsicht Genüge getan.
Auch Arbeitnehmer, die zwar Sonntagsarbeit leisten, für die der Ersatzruhetag aber binnen der gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochen nachgeholt wird, arbeiten automatisch nicht mehr als an 12 aufeinanderfolgenden Tagen, so dass auch hier Übereinstimmung mit dem europäischen Recht nach der neuen Rechtsprechung hergestellt ist.
Nicht mehr rechtfertigen lässt sich nach dem Urteil des EuGH und der dortigen Auslegung des Artikels 5 der Richtlinie das Vorholen des Ersatzruhetages bei gleichzeitigem Anhängen von 13 aufeinanderfolgenden Arbeitstagen. Dieses Vorgehen war bisher nach dem Gesetzeswortlaut des Arbeitszeitgesetzes nicht ausdrücklich untersagt, ist aber mit dem Wortlaut der Richtlinie („pro Siebentageszeitraum“) nicht vereinbar.
Die Gerichte bzw. das Gewerbeaufsichtsamt müssten eine solche Handhabung daher künftig als Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz bewerten. Auch per Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung lässt sich an dieser Grenze nichts ändern.
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